- Florian Raz
Wie dem K.o.-Müller Olympiagold gestohlen wurde
Hans Müller gilt als bester Schweizer Amateurboxer im Schwergewicht. Ein Skandal kostete den Basler 1948 eine olympische Medaille. Bis zu seinem Tod war er überzeugt, dass er Gold verdient hätte.

Zwei, vielleicht drei Sekunden fehlten ihm zu einer Olympiamedaille. Und vermutlich nicht nur das: Bis an sein Lebensende war Hans Müller davon überzeugt, dass er von einem Ringrichter letztlich um Gold betrogen worden war. Die Halbfinal-Niederlage 1948 gegen Gunnar Nilsson war ein Skandal, an den noch viel später erinnert wurde. 1995 schrieb die «Basler Zeitung» von einem «der beschämendsten Tiefschläge der olympischen Boxgeschichte».
Müller galt als bester Schweizer Schwergewichtsboxer der Geschichte. Doch die Zeit lief gegen ihn. Am 22. Dezember 1915 in Birsfelden geboren, fiel Müllers Karriere in die Zeit des Zweiten Weltkriegs und das verhinderte eine Profi-Karriere. So blieb Müller Amateur und bestritt nicht weniger als 360 Kämpfe, von denen er 240 durch Knock-out gewann. Zwischen 1934 und 1952 wurde er 14-mal Schweizer Meister. Wenn der «K.o.-Müller» in Basel boxte, war eine grosse Schau angesagt. Müller war in der Stadt so populär wie später die Fussballstars Seppe Hügi und Karli Odermatt. Seine Kämpfe müssen eine Art Volksfest gewesen sein, mit einem Publikum, das aktiver Teil der Veranstaltung war und mit Zwischenrufen für einen Teil der Unterhaltung sorgte. «Hansli, lass ihn doch auch noch etwas boxen!» Oder: «Hans, mach’s kurz, wir haben Durst!»
Seinen grössten Erfolg und zugleich seine bitterste Niederlage erlebte Müller fern der Heimat. 1948 boxte er sich an den Olympischen Spielen in London bis in den Halbfinal. Dabei besiegte er den Uruguayer Augustin Munis im Achtelfinal durch K.o. Die «National Zeitung» beschrieb Müllers Taktik so: «Da machte dieser Müller, was ihn zum Sieg führen sollte: Er nahm ihm die Luft weg!» Die Schläge in die Magengegend waren Müllers Lieblingsstrategie, wie er später dem «Sport» erzählte. «Drei Amateurrunden sind rasch vorbei», sagte er der Zeitung, die seine Taktik so beschrieb: Ein oder mehrere harte Uppercuts in den Magen, der Gegner senkt die Deckung, neigt vornüber und liefert sich so seinem schweren rechten Kinnhaken aus. Müller: «Ich brauchte nur noch zu zielen.»
Im Viertelfinal besiegte der Basler noch etwas überraschend den Engländer Jack Gardner nach Punkten, der später Europameister der Profiboxer wurde. Was dann gegen Gunnar Nilsson geschah, war ein Skandal. Müller verlor seinen Halbfinal gegen Nilsson nach Punkten, obschon er den Gegner «in jeder Runde zweimal zu Boden schickte», wie Müller später erzählte. Ganz so einseitig war der Kampf aber nicht, wie die Zeitungsberichte aus dem Jahr 1948 nahelegen. Müller musste seinen Halbfinal noch am gleichen Tag seines Viertelfinal-Siegs über Gardner bestreiten. Um Kraft zu sparen, setzte er auf seine bewährte Taktik: «Langes Abtasten lag mir nicht. Ich ging sofort auf den Gegner los und deckte ihn mit Serien ein. Meist war mit sofortigem Zuschlagen schon der Grundstein zum Erfolg gelegt.»
Das Rezept schien auch gegen Nilsson aufzugehen. «Auf eine fürchterliche Direkte in der ersten Runde fiel der Schwede wie ein Sack zu Boden», schrieb die «Sport Information». Dann aber – und das war der Skandal – habe der Ringrichter vergessen, Nilsson sofort auszuzählen: «Er war so überrascht, dass er Sekunden vergehen liess, ehe er überhaupt zu zählen begann. Nach der Meinung eines französischen Offiziellen, der die Zeit privat gestoppt hatte, war Nilsson während 13 Sekunden down!» Müller musste sich kurz wie der Sieger gefühlt haben, ehe er realisierte, dass der Ringrichter den Schweden bloss bis acht angezählt hatte. Nilsson erholte sich in der Folge so gut, dass Müller in der zweiten Runde selbst kurz zu Boden musste. In der Schlussrunde kam der Basler dann «kaum mehr zu Wort und musste sich nach Punkten geschlagen geben», notierte die «Sport Information».
Nun waren mehrere Ringrichter an diesem Olympischen Turnier noch während der Wettkämpfe nach haarsträubenden Fehlurteilen ausgeschlossen worden. Doch die NZZ hielt explizit fest, die «erstaunlichen Leistungen der Ringrichter» hätten zwar auch an Müllers Halbfinaltag angedauert, aber: «Es betrifft nicht das Urteil gegen den Schweizer.» Für Müller hatte das langsame Zählen des Ringrichters gleich doppelte negative Folgen: Er verlor nicht nur seinen Halbfinal, er musste auch für den Kampf um Bronze Forfait geben. Die «Basler Zeitung» behauptet 1995, der Schweizer sei «unter Protest» abgereist. Die Zeitungen von 1948 erzählen aber eine andere Geschichte. Müller habe sich im Kampf gegen Nilsson verletzt: «Seine rechte Hand war derartig geschwollen, dass er den Boxhandschuh nicht anziehen konnte.» Müller musste ohne Medaille aus London abreisen. Er arbeitete weiterhin in Birsfelden als Wegmacher und war bis zu seinem frühen Tod 1967 überzeugt, dass er den Goldmedaillengewinner Rafael Iglesias im Final besiegt hätte.